Kurzgeschichte 1 – Das Kloster

Endlich ist es so weit – der erste Beitrag ist fertig! Tatsächlich ist das die erste Kurzgeschichte, die ich in meinem Leben geschrieben habe. Ich hoffe, dass sie ein wenig zum Denken anregt.
In der nächsten Zeit wird dann ein sachlicher Artikel zum Thema folgen.
Und wenn es gefällt – ich freue mich sehr über Abonnenten. Und über Weiterverbreitung.

Viel Spaß!

 

Das Kloster

Ich konnte nicht glauben, dass ich die Augen öffnete. Überwältigt von der schieren Tatsache, vergaß ich sogleich sie aufzuhalten und lag wieder im Dunkeln.
Eigentlich hätte ich tot sein müssen. Begraben von Tonnen von Schnee, zermahlen zwischen Steinen und Felsen, letzten Endes jämmerlich erstickt. Eine Lawine im Himalaya überlebte man nicht, das war Teil des Spiels mit dem Berg.
Aber anscheinend hatte ich die Regeln gebrochen.
Nun, wenn ich schon nicht tot war, warum steckte ich dann nicht irgendwo fernab jeder Menschenseele im Schnee, warum tat mir nichts weh, und warum war es nicht einmal kalt? Genau genommen fühlte mich sogar viel besser als die letzten Tage, die von dauernden Rückenschmerzen geprägt gewesen waren, und von Zehen, die dem Kältetod nahestanden.
Verwirrt schlug ich die Augen auf, diesmal vorbereitet.
Der Anblick brachte auch den letzten Rest meines Geistes, der dachte, ich könnte begreifen was geschehen war, zum Schweigen. Ich lag in einem Krankenzimmer, das jede Schweizer Privatklinik vor Neid hätte erröten lassen. Elegante, fast schon mondäne Möbel, in die dezent modernstes medizinisches Gerät integriert war, verliehen dem Raum die Ausstrahlung eines altehrwürdigen Luxushotels. In der Ecke sah ich sogar einen Kamin. Nur die Infusionen, die in meinen Arm liefen, und der Bildschirm, der neben dem Bett meine Vitalfunktionen überwachte, ließen keinen Zweifel am Sinn und Zweck dieses Raumes.
Wie um alles in der Welt war ich hierhergekommen? Und wo zur Hölle war ich?
Mit einem leisen, fast schon verstohlenen Geräusch öffnete sich eine Tür, die ich in der holzvertäfelten Wand bislang übersehen hatte, und eine Frau in einem makellos weiß glänzenden Kittel betrat den Raum. Sie war groß, schlank und hatte ein Gesicht, dessen Züge man nur als gefährlich scharf bezeichnen konnte. Ihre kerzengerade Körperhaltung komplettierte die Erscheinung.
„Guten Abend!“, begrüßte sie mich freundlich aber emotionslos und zog sich einen Stuhl neben mein Bett.
„Hallo.“, bemühte ich mich zu antworten.
Wenn ihre Haltung im Stehen diszipliniert gewesen war, dann war sie im Sitzen nahezu militärisch.
„Schön, dass Sie wieder unter den Lebenden weilen. Sie haben da einen ganz schönen Sturz hinter sich. Wie fühlen Sie sich?“
Dutzende Fragen schossen mir in den Kopf und ließen mich keinen klaren Gedanken fassen. Ein grunzendes Geräusch war alles, was ich hervorbrachte, gefolgt von einem wütenden Schnauben über mich selbst. Schließlich brachte ich mich unter Kontrolle.
„Mir geht es gut. Viel zu gut. Ich müsste tot sein. Was haben Sie mit mir gemacht?“
Die Frau lächelte undurchsichtig.
„Sie wurden uns quasi vor die Füße gespült. Da konnten wie Sie doch nicht einfach so liegen lassen.“
„Uns? Vor die Füße gespült? Aber hier ist doch nichts. Absolutes Niemandsland. Bis zum nächsten Ort sind es hunderte Kilometer.“
Sie nickte bedächtig. „Genau deswegen sind wir hier. Bald werden Sie es erfahren, so aufgeregt wie Sie mir erscheinen lassen Sie sonst ohnehin keine Ruhe. Aber es ist spätabends. Schlafen Sie noch ein paar Stunden, essen dann in Ruhe etwas und anschließend werden Ihre Fragen Antworten erhalten.“
Alles in mir schrie danach, sich damit nicht zufrieden zu geben, aber ihr Blick ließ meine Widerworte, die sich schon auf halbem Weg befanden, erschauernd umdrehen.
„Okay.“ Ich schluckte. „Sie haben sicher Recht. Holen Sie mich ab?“
Obwohl sie noch immer lächelte, fühlte ich mich kalt.
„Das werde ich. Gute Nacht.“
Nachdem sie den Raum verlassen hatte, verabschiedete sich auch die dezente Beleuchtung und ich lag im Dunkeln. Als hätte die Frau es gewusst, schlief ich trotz meiner vielen Fragen sofort wieder ein.

Ich erwachte durch den unverkennbaren Duft frischen Kaffees und den bohrenden Blick, der auf mir ruhte.
Verschlafen sah ich um mich. Auf einem Tischchen neben dem Bett war ein überschaubares, aber sehr einladendes Frühstück gerichtet. Die Frau saß in einem der beiden Stühle und goss Kaffee aus einer silbernen Kanne in eine Porzellantasse.
„Sie sind ein Kaffeetyp, stimmt’s?“, sagte sie mit ihrer kalten, glatten Stimme, die mir gestern schon einen Schauer bereitet hatte. Eine Stimme wie Milchglas.
„Stimmt.“
„Setzen Sie sich.“
Nur zu gern folgte ich der Anweisung. Mein Magen fühlte sich an, als wäre er auf die Größe einer Erbse zusammengeschrumpft. Begierig lud ich mir Rührei auf den Teller.
„Lassen Sie es sich schmecken.“, bemühte sich die Frau, ein Gespräch in Gang zu bringen. „Ich hoffe, es gefällt Ihnen hier.“
„Nun, das kann ich noch nicht sagen.“, antwortete ich zwischen zwei Gabeln, „Aber zumindest das Essen ist gut und der Raum ist schön.“
„Das freut mich.“
Schweigend sah sie dabei zu, wie ich einen Bissen nach dem anderen verschlang. Schließlich brach sie die Stille.
„Wissen Sie,“, begann sie stockend, „Sie sind der erste Gast, den wir haben. Und um ehrlich zu sein sind wir uns nicht ganz einig, wie wir mit Ihnen umgehen sollen.“
„Also bislang finde ich machen Sie das hervorragend.“, bemühte ich mich, die Stimmung ein wenig aufzulockern. Sie lächelte leicht.
„Danke. Ich möchte, dass Sie sich so wohl wie möglich fühlen.“ Sie seufzte. „Denn, um es geradeheraus zu sagen, Sie werden den Rest Ihres Lebens hier verbringen.“
Beinahe wäre ich an dem Stück Brot, das ich gerade herunterschlucken wollte, erstickt. Hustend rang ich nach Luft.
„Wie bitte?“
„Nun ja, das ist ein wenig kompliziert.“ Sie zeigte wieder ihr undurchdringliches Lächeln, das keinerlei Einblick auf ihren wahren Gemütszustand hindurch lies. Ein Lächeln wie ihre Stimme.
„Aber Sie haben ja Zeit.“, fuhr sie fort. „Und ich bin mir sicher, dass Sie verstehen werden, warum es so sein muss.“
„Wo bin ich denn überhaupt?“, fragte ich und spürte Zorn in mir aufsteigen. Ein Gefühl von Hitze in ihrer kalten Ausstrahlung.
„Das haben Sie gestern bereits selbst gesagt: Sie sind im Niemandsland. Um es Ihnen ein wenig genauer anzugeben – wir sind in einem der vielen Täler des Himalayas, die zu weit ab der Wanderrouten liegen, als dass sie irgendwen wirklich interessieren würden und zu weit von jeder Grenze entfernt, als dass das Militär sich schert.“
„Also genau da, wo mich die Lawine erwischt hat?“
„Genau da.“
„Aber da gibt es nichts!“, widersprach ich, lauter als gedacht. „Ich habe davor jede Karte, die es gibt, inspiziert, jeden Internetbeitrag gelesen und alle bisherigen Besteiger gefragt. So ein nettes…“ Ich kam ins Stocken. „Hotel? Krankenhaus? Gefängnis? Was ist das eigentlich hier?“ Sauer starrte ich sie an.
Ausdrucklos und gelassen blickte sie zurück.
„Ähm, also, jedenfalls wäre es mir aufgefallen.“, schloss ich lahm.
„Sie haben vollkommen recht.“, war alles, was sie sagte.
Schweigend verdaute ich diese Aussage.
Schließlich hatte ich meine Gedanken sortiert. „Also ist dies ein auf irgendeine Art geheimer Ort, und genau aus diesem Grund darf ich ihn auch nicht wieder verlassen.“, stellte ich fest.
Diesmal schien ihr Lächeln wirklich eine Spur Wärme zu enthalten.
„Genau.“, antwortete sie. „Es freut mich, mit einem intelligenten Menschen zu sprechen. Das macht alles Weitere mit Sicherheit viel einfacher.“
Ich schnaubte. „Danke für die Blumen. Dann schießen Sie mal los.“
Bedächtig legte sie ihre Ellenbogen auf der Tischplatte ab und verhakte ihre Finger.
„Nun gut. Ich möchte Ihnen dazu eine Frage stellen. Sie ist sehr schnell gefragt, aber braucht sehr lange, um beantwortet zu werden.“
Erneut schnaubte ich. „Wie Sie sagten, allem Anschein nach habe ich ja Zeit.“
Ihre linke Augenbraue hob sich um ein paar Millimeter. „Stimmt.“, bemerkte sie und beugte sich über ihre Hände.
„Also: Was ist Realität?“

Eine geschlagene Stunde später hatte ich noch immer keine Antwort, aber mich dafür immerhin mit der Absurdität der Situation abgefunden. Da saß ich also festgesetzt in einem luxuriösen, auf zauberhafte Weise ins Himalaya verfrachtete Krankenzimmer und frühstückte mit einer Frau, die die Emotionalität einer Türklinke besaß? Nun gut. Dann konnte ich ja auch gleich noch ein Gespräch über philosophische Grundsatzfragen führen. Warum denn nicht?
„Sie sagen also, real ist, was man messen kann?“, hakte sie gerade nach.
„Ich denke schon, ja.“, antwortete ich vorsichtig. „Aber Sie verwirren mich.“
„Wie ist es dann mit Gedanken? Sind die real?“
„Wie meinen Sie das?“
„Nun, wir können sie nicht messen, aber sie sind ununterbrochen da.“ Bedächtig legte sie den Zeigefinger an die Schläfe. „In jedem von uns.“
Ich überlegte kurz. „Aber wir können Hirnströme messen. Und ich glaube ich habe auch mal irgendwo gesehen, dass man mit großen Computern daraus ablesen kann, was ein Mensch gerade sieht. Vielleicht können wir eines Tages so auch Gedanken messen.“
„Aber sind es denn dann die Gedanken, die wir messen, oder nicht immer noch die Hirnströme?“
„Naja, an sich sind es immer noch die Hirnströme, aber wir erlangen dadurch Informationen über die Gedanken, nicht?“
Ohne eine Antwort zu geben sah sie mich an.
„Ja, ich denke ich sehe Ihren Punkt.“, fügte ich zögerlich hinzu.
Sie lies nicht locker. „Sind Gedanken dann real oder nicht?“
„So gesehen würde ich sagen nein. Vielleicht sind sie das Zusammenwirken von vielen realen Dingen. Zellen des Gehirns oder etwas in der Art.“
„Aber Sie nehmen Ihre Gedanken doch war.“
„Stimmt.“
Für einen Moment herrschte Stille.
„Ich weiß es nicht.“, kapitulierte ich erschöpft. Wie als Antwort hob sie wieder eine Augenbraue, diesmal die rechte.
„Dann schauen wir uns mal etwas anderes an.“, sagte sie nach einer kurzen Pause. „Was sagen sie zu Vier? Ist Vier real?“
„Vier? Die Zahl meinen Sie?“
„Genau. Vier Berge, vier Menschen, was immer sie wollen.“
„Nein, natürlich nicht.“
Wieder schwieg sie, bis mir ein Gedanke kam.
„Das ist ein abstraktes Konzept.“, fuhr ich fort, „Davon gibt es doch jede Menge! ‚Ja‘ und ‚nein‘ zum Beispiel, oder ‚und‘ und ‚oder‘. Das sind Konstrukte, die wir brauchen, um zu kommunizieren.“
„Und jeder versteht und benutzt sie.“, stimmte sie zu und senkte den Kopf zu einem angedeuteten Nicken. „Doch sind sie dann nicht genauso real oder irreal wie unsere Gedanken?“
„Das ist doch etwas vollkommen anderes!“
„Wieso?“
Verzweifelt überlegte ich. Obwohl ich von meiner Meinung überzeugt war, konnte ich sie nicht recht begründen. Wusste man manche Dinge nicht einfach, ohne sie zu belegen?
„Ich glaube,“, begann ich zögerlich nach einiger Zeit, „der Unterschied ist folgender: Das eine ist eine Idee, das andere ein Objekt. Es gibt nicht diese oder jene Vier, meine oder Ihre Vier. Es gibt nur die Idee Vier, und die ist immer die gleiche. Von realen Dingen gibt es hingegen viele – Tischbeine, Tassen, was auch immer. Wir können sie zuordnen, meins, Ihres, und so weiter. Das können wir nur, weil sie real sind. Wenn Sie so wollen, ist das, was ich Idee nenne, ein Bauplan, und das, was ich Objekt nenne, dessen Umsetzung. Wenn Sie ein Auto bauen, kann ich mich auch nur in das fertige Auto setzen, dieses ist also real. Dessen Bauplan existiert nicht wirklich, aber er ist eine Voraussetzung, damit ich mich hineinsetzen kann.“
Schon das zweite Mal heute schien hinter dem Lächeln der Frau ein wenig echte Emotion zu stecken.
„Sehr gut! Sie sind zwar ein wenig an meiner Frage vorbeigeschossen, aber die Abstraktion, die Sie gerade begonnen haben, ist der Schlüssel. Lassen Sie uns das fortführen.“
Interessiert runzelte ich die Stirn. Worauf wollte sie hinaus?
„Sie sagen also, dass es so etwas wie Ideen gibt, die den Bauplan dessen ausmachen, was wir wahrnehmen?“, wollte sie wissen.
„So ist es. Beziehungsweise, um auf ihre Vier zurückzukommen, enthalten diese Ideen Konzepte, logische Verknüpfungen, die sich nicht in das Objekt übertragen lassen, aber trotzdem gebraucht werden. So wie das Auto vier Räder hat, oder Vorder- und Hinterräder. Um es zu bauen müssen wir diese Konzepte verstehen, aber das Objekt selbst besteht nicht aus Vier, es ist nicht Und.“
„Aber es ist ein Auto?“
„Nun, selbstverständlich.“
„Ist es nicht eigentlich eine große Anzahl von seltsam verbogenen Plastikstücken, kompliziert angeordneten Metallteilen und sonstigen Bauelementen, und wir nennen das Ganze dann einfach nur Auto?“
Um Zeit zu gewinnen, nippte ich an meinem Kaffee.
„Ja, ich denke Sie haben Recht.“, bestätigte ich stockend, als ich die Tasse wieder abgesetzt hatte. „Und diese Bauteile bestehen wiederum aus Molekülen, und diese aus Atomen, und so weiter.“
„Ganz genau!“, bekräftigte sie meinen Gedanken. „Letzten Endes sind das alles nur Ideen, in die wir unsere Wahrnehmungen einordnen, richtig?“
„Richtig.“
„Was ist nun also realer – die Idee oder das Objekt?“
Unwillkürlich musste ich lachen. „Das Objekt natürlich! Wir haben es nur in kleinere Teile zerlegt, aber letzten Endes sind die ja nun mal da und ermöglichen es uns erst, solche Klassifizierungen zu schaffen.“
Trotz des intensiven Gesprächs war ihre Haltung keinen Deut weniger kontrolliert geworden. Leicht vornübergebeugt, die Hände auf dem Tisch verschränkt liegend, kam sie mir ein bisschen vor wie eine Prüferin in einem mündlichen Examen. Jetzt streckte sie die beiden Zeigefinger aus der Verklammerung hervor, führte sie an ihr Kinn und stützte sich auf dem entstehenden Dreieck aus Ellenbogen und Fingerspitzen ab. Reflexartig hatte ich das Bedürfnis, weiter nach hinten im Stuhl zu rücken. Auf einmal hatte ich Angst vor dem, was sie sagen würde.
In ihrem nüchtern-kalten Tonfall fuhr sie fort. „Woher wissen Sie denn, dass diese kleineren Teile da sind?“, wollte sie wissen.
„Na weil ich sie sehen kann!“, entfuhr es mir, emotionaler als geplant. „Und anfassen. Fühlen. Je nach dem auch hören, riechen oder schmecken. Meine Sinne sagen mir: Da ist etwas!“
Natürlich ließ sie mein Ausbruch kalt.
„Das bedeutet also, dass Sie keine Aussage über die Objekte selbst treffen können, sondern nur über Ihre Wahrnehmungen davon, richtig?“
Die Frage brachte mich zum Stutzen. „Richtig.“, bestätigte ich schließlich zögerlich.
„Also können Sie eigentlich auch nicht sagen, dass wirklich etwas da ist. Ihr Stuhl zum Beispiel. Sie können nur sagen, dass Ihre Wahrnehmungen am besten dadurch erklärt werden, dass er sich unter Ihnen befindet. Sie fallen nicht hindurch, Ihre Haut fühlt die Lehne und das Polster, ab und zu hören Sie das Holz knacken wenn Sie sich bewegen. Aber möglicherweise ist da auch gar kein Stuhl und ihre Sinne werden getäuscht.“
„Na das ist jetzt aber schon reichlich absurd. Wie sollten sich denn meine Sinne so täuschen? Aber okay, in der Theorie kann ich Ihnen Recht geben.“
Statt auf meine Frage einzugehen, fuhr sie ihren Gedanken fort. „Ihre Wahrnehmungen veranlassen Sie also dazu, dass Sie an das Konzept „Stuhl“ denken. Damit haben wir doch alles zusammengeführt: Das, was Sie letzten Endes wahrnehmen, womit Sie ihre Umwelt erklären und verstehen können, sind nicht irgendwelche Gegenstände oder Dinge. Was Sie wahrnehmen, sind die Ideen, die in Ihren Gedanken vorkommen. Was auch immer sie zu diesen Gedanken veranlasst, können Sie nicht erkennen, liegt außerhalb Ihrer möglichen Erkenntniswelt. Also sind es doch letzten Endes die Gedanken und deren Inhalt, die eigentlich real sind.“
Langsam aber sicher schwirrte mir der Kopf vor lauter intellektueller Akrobatik.
„Das mag ja alles sein.“, erwiderte ich widerstrebend. „Aber irgendeine reale Grundlage muss doch alles haben, selbst wenn wir sie nicht erkennen können.“
„Nun ja, wahrscheinlich. Aber wir können sie nicht erkennen. Letzten Endes ist sie also irrelevant. Unsere Gedanken und Konzepte hingegen existieren, da können wir uns sicher sein.  Wäre es also nicht sinnvoller, diese als Realität zu bezeichnen?“
Jetzt bekam ich endgültig Kopfschmerzen.
„Ich glaube, wenn ihre Behauptungen stimmen, macht Ihre Argumentation Sinn.“, bemühte ich mich um eine möglichst neutrale Aussage. Alles in mir widerstrebte, ihr zuzustimmen.
Als hätte man ihr nun eine Freigabe erteilt, erschlaffte ihre hochkorrekte Haltung und ein strahlendes Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
„Ich wusste doch, dass Sie ein vernünftiges Kerlchen sind!“, stieß sie wie erleichtert, mit einer plötzlich angenehm herzlichen Stimme aus. „Das ist alles, was Sie verstehen müssen. Den Rest kann ich Ihnen Zeigen.“
Elanvoll erhob sie sich von ihrem Stuhl und schritt zur Tür.
„Kommen Sie!“, forderte sie mich auf und deutete nach draußen. „Ich zeige Ihnen, wo Sie sind. Und übrigens: Ich heiße Svenja. “

So krass wie der plötzliche Wandel in ihrem Verhalten, war auch der Wechsel in der Architektur, als ich durch die Tür schritt. So klassisch-gediegen, wie mein Zimmer gewesen war, so modern-minimalistisch war der Gang, der sich vor mir öffnete. Die Decke und die Wand, welche an mein Zimmer grenzte, bestanden aus nacktem Beton, in dem sogar noch die Abdrücke der Gussformen zu sehen waren. Die andere Längsseite des Flurs hingegen bestand vollkommen aus Glas, was mir das Gefühl gab, unter einem Vordach, statt in einem Gebäude zu stehen. Der Ausblick, den die Fensterfront eröffnete, war gigantisch. Vor uns türmten sich die majestätischen, scheinbar unberührten Massive des Himalayas auf. Alles war von Schnee bedeckt, was bedeutete, dass wir uns wohl in einiger Höhe befinden mussten.
„Es fasziniert mich auch jedes Mal aufs Neue.“, sagte Svenja, die offenbar meinen verträumten Blick bemerkt hatte. „Wie man etwas so Schönes erschaffen kann… Aber Sie werden noch genug Zeit haben, die Aussicht zu bewundern. Folgen Sie mir.“
Wir gingen durch mehr solcher wunderschönen Gänge, bis wir schließlich vor einer großen Tür standen. Irgendwie hätte ich an diesem Ort eine Glastür erwartet, aber sie war aus Mahagoni. Svenja legte die Hand auf die Klinke und dreht sich zu mir um.
„Eine kleine Warnung vorneweg: Wie sehen hier nicht gerade viele neue Gesichter. Genau genommen bist du das erste seit vier Jahren. Es kann also sein, dass manche dich ein wenig seltsam anschauen. Mach dir nichts draus.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, stieß sie die Tür auf und wir traten ein.
Ich weiß nicht, was genau ich erwartet hatte, aber mit irgendetwas Spektakulärem, oder zumindest etwas Ungewöhnlichem, hatte ich schon gerechnet. Jedenfalls definitiv nicht mit einem Großraumbüro. Überrascht blieb ich stehen und betrachtete den Raum. Er sah aus, wie der Wunschtraum eines jeden Start-Up-Gründers: Lichtdurchflutet, mit drei vollverglasten Seiten; in der Mitte ein großer Spiel- und Spaßbereich mit Kicker, Couches, altmodischen Arcade-Automaten und einer riesigen Kaffeemaschine und in dem vielen freien Raum darum kein statisches Muster von Bürotischen und -stühlen, sondern nur mobile Arbeitsplätze in allen Formen und Farben, die jeden Tag aufs Neue angeordnet werden konnten.
Ohne Vorwarnung begann ich zu lachen. Ich konnte nicht anders, hemmungslos sprudelte es nur so aus mir heraus. Tränen schossen mir in die Augen und die rhythmischen Kontraktionen meines Bauches ließen mich in die Knie gehen. Unkontrolliert prustete ich, hörte mich johlen und schließlich kichern. Endlich legte mir Svenja eine Hand auf die Schulter und führte mich zu einer freien Sitzgruppe. Die Aufmerksamkeit aller Anwesenden war mir jetzt natürlich sicher.
„Haben Sie sich wieder beruhigt?“, fragte sie, als ich aufgehört hatte zu glucksen. Sie war wieder in ihre harte, kalte Art geschlüpft.
„Passt schon.“, brachte ich schnaubend hervor.
„Gut. Ich verstehe Ihre Reaktion. Ich hätte sie voraussehen müssen. Nun, man lernt aus seinen Fehlern. Sie sind nun mal unser erster Gast.“ Förmlich streckte sie ihre Hand aus. „Als solcher darf ich Sie als Leiterin dieser Einrichtung herzlich begrüßen. Willkommen in Pudels Kern.“
Mittlerweile hatte ich mich wieder gefangen.
„Das ist aus einem alten deutschen Buch, oder?“, erinnerte ich mich vage.
„Genau, aus Faust. Es ist ein Theaterstück. Kennen Sie es?“
„Nicht wirklich.“, musste ich zugeben.
„Das macht nichts. Das Stück taugt ohnehin nicht wirklich als Analogie, aber die Leute fühlen sich besser, wenn ihr Leben- und Arbeitsort einen griffigen Namen hat.“
„So wie ich das verstehe, ist es eigentlich ein Gefängnis, und sie wollen das dadurch verschleiern.“
Sie lächelte kühl. „Nun, da haben Sie sicher auch nicht ganz Unrecht. Wer sich als Teil einer Geschichte sieht, will aus dieser nicht ausbrechen.“ Wieder legte sie die Finger zu einem Dreieck zusammen und führte sie ans Kinn. „Aber es sind alle freiwillig hier, insofern ist das gar nicht so wichtig. Und es fühlt sich auch niemand gefangen, denn es ist schlicht das Richtige, was wir tun. Sie wollen jetzt bestimmt wissen, was das für ein Ort ist?“
Ein bissiges Grinsen erfüllte mein Gesicht. „Ich glaube, ich kann sie gar nicht davon abhalten, es mir zu erzählen. Aber Spaß beiseite. Natürlich will ich.“
„Sie fragen sich bestimmt, warum ich mit Ihnen so ein seltsames Gespräch geführt habe.“
„Ich frage mich so viel, dass ich schon wieder aufgehört habe, mich zu wundern.“
Kurz überlegte sie. „Das ist vielleicht sogar besser so.“, stellte sie schließlich fest. „Das macht es wahrscheinlich leichter.
Es begann vor gut sechs Jahren. Fast alle, die hier leben, arbeiteten damals zusammen in einem kleinen, abgelegenen Forschungsinstitut für Grundlagenphysik. Wie alle Physiker unserer Zeit versuchten auch wir, das letzte Problem zu lösen: Die Vereinigung von Quantenphysik und Relativitätstheorie. Doch, ebenso wie alle anderen, fanden wir keine Lösung.
Schließlich erregte eher zufällig eine kleine Messung unsere Aufmerksamkeit. Offenkundig musste sie ein Messfehler sein, da sie in jeder Hinsicht der Physik widersprach. Doch seltsamerweise zeigte sie sich auch in Wiederholungen des Experiments, blieb auch bestehen, wenn wir andere Instrumente verwendeten und wurde so statistisch immer besser abgesichert. Fast wären wir verzweifelt, bis schließlich eine Idee aufkam: Was wäre, wenn die Welt, in der wir uns befinden, eine Simulation ist, und dieses Phänomen einen Fehler im System darstellt? Wir brauchten Tage, bis wir den Gedanken überhaupt als Theorie akzeptierten, und Wochen, bis wir ihm eine Chance gaben. Aber schließlich fanden wir keine bessere Erklärung. Im Gegenteil, auch andere Messergebnisse, die uns in der letzten Zeit Probleme bereitet hatten, wurden dadurch erklärbar. Wir dachten uns weitere Experimente aus, die die Theorie bestätigen könnten – was sich als extrem schwierig herausstellte. Letzten Endes waren wir uns dann aber ziemlich sicher: Was wir als Umwelt wahrnehmen, ist eine Simulation.
Am nächsten Tag kamen nur drei Viertel unseres Teams zur Arbeit. Wie sich herausstellte, hatte der Rest sich noch am Abend das Leben genommen. Zum Glück lag unsere Einrichtung wegen seiner hochempfindlichen Instrumente weit ab jeder Zivilisation, sodass noch niemand etwas mitbekommen hatte. Geschockt setzten die Verbliebenen sich zusammen und besprachen, was zu tun sei. Wir kamen zu dem Schluss, dass sich diese Erkenntnis niemals weiterverbreiten darf. Deswegen vernichteten wir alle unsere Unterlagen, zerstörten durch einen ‚Bedienfehler‘ unsere Messinstrumente und verpflichteten uns gegenseitig, uns zu töten, falls wir mitbekamen, dass jemand an die Öffentlichkeit gehen wollte. Still und heimlich suchten wir einen Ort, der möglichst weit ab vom Rest der Menschheit sein musste, von dem aus wir weiter agieren konnten. Wir fanden ihn hier im Himalaya, und bauten uns eine Unterkunft für den Rest unseres Lebens. Das Geld dafür kam aus Börsenspekulationen, für die wir unsere Forschungsetats umleiteten. Vor vier Jahren schließlich kappten wir alle Verbindungen und zogen uns hierhin zurück. Hier werden wir den Rest unseres Lebens, und unsere Kinder und Enkel ebenso, nur einer Aufgabe widmen: Die Menschheit von unserer Erkenntnis fernhalten.“
Ich weiß nicht, welche Reaktion sie von mir erwartet hatte, aber falls sie erstaunt war, ließ sie sich nichts anmerken, als ich mich nicht sonderlich bewegt zeigte. Man hätte annehmen können, dass ich völlig verstört gewesen wäre, ihr widersprechen würde oder sie auslachen – aber für mich war die Situation ohnehin schon so irreal, dass mir ihre Schilderung schon fast selbstverständlich erschien. Nur die Konsequenzen aus ihrer Entdeckung konnte ich mir nicht erklären.
„Und warum wollen Sie nicht, dass andere Menschen davon erfahren?“, fragte ich deshalb nach.
„Damit Sie das nachvollziehen können, mussten wir heute Morgen das Gespräch führen.“, antwortete sie, die Kälte in ihrem Lächeln schmelzend. Offenbar hatte mein schnelles Akzeptieren der Tatsache dafür gesorgt, dass sie wieder entspannter an das Gespräch heranging. „Wenn wir es öffentlich machen würden, wäre das der größte Massenmord in der Geschichte der Menschheit. Millionen würden sich das Leben nehmen. Chaos würde ausbrechen. Viele würden sich nicht mehr verpflichtet fühlen, sich an irgendwelche Normen oder Gesetze zu halten. Die Zivilisation wie wir sie kennen, würde zusammenbrechen. Und das, obwohl es völlig unnötig wäre.“
„Weil es ohnehin keinen Unterschied macht.“, vervollständigte ich ihren Gedanken. Sie hatte Recht. Genau das hatten wir vorhin ja herausgearbeitet: Unsere Gedanken und Gefühle waren da, egal auf welcher physischen Grundlage.
„Ganz genau. Aber um das zu verstehen braucht es Zeit und Intellekt. Niemals würden das alle Menschen rechtzeitig akzeptieren, und wahrscheinlich würden selbst wenn wir unendlich Zeit zur Vorbereitung hätten, viele nicht zustimmen und ihre eigenen Schlüsse ziehen. Deswegen müssen wir dafür sorgen, dass es niemals soweit kommt.“
„Also ist das hier“, ich deutete um mich, „so eine Art Kloster, in der Sie, als Einsiedler, über das Wohl der Menschheit wachen?“
„Das ist eine schöne Umschreibung.“, bestätigte sie sanft.
„Und von diesem Raum aus versuchen Sie, die Grundlagenforschung so zu manipulieren, dass sie nicht noch einmal auf ihr Ergebnis kommt?“
„Genau. Wir sind von Physikern zu Hackern geworden, um das zu bewerkstelligen.“
Diesmal war ich es, der lächelte.
„Ja, Sie sind zu Hackern geworden. Aber nicht nur. Sie sind auch zu Göttern geworden. Sie sitzen auf ihrem persönlichen Olymp und halten das Schicksal der Menschen in der Hand.“
Mein Lächeln wurde noch breiter. Ein warmes Gefühl breitete sich in meinem Magen aus.
„Wenn Sie mich mitmachen lassen, werde ich also kein Problem damit haben, hier den Rest meiner Zeit zu verbringen.“, wurde mir klar, während ich sprach. „Denn wie sollte ich etwas Größeres erreichen, als ein Gott zu werden?“

 

Foto: By Mount_Everest_as_seen_from_Drukair2.jpg: shrimpo1967derivative work: Papa Lima Whiskey 2 [CC BY-SA 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0)%5D, via Wikimedia Commons

2 Kommentare zu „Kurzgeschichte 1 – Das Kloster

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